12. hofbauer-kongress: anatomie des liebesaktes (hermann schnell, deutschland 1971)

Veröffentlicht: Januar 7, 2014 in Film
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Die bestialischen Verheißungen des neu eingeführten „stählernen Überraschungsfilms“, der sadomasochistischen Steigerung seines tristen Gegenstücks, waren den Kongressbesuchern schon im Vorfeld in den allerschwärzesten Farben ausgemalt worden. Christoph, der den geheimen Film in einem schwarzpädagogischen Alleingang gegen den von Humanismus und Mitgefühl geprägten Willen seiner Ko-Kuratoren ins Programm gehievt hatte, schwebte eine Art kollektiver Leiderfahrung vor: Wie ein perverser Komponist hatte er das Wehklagen, Stöhnen, Ächzen und leidende Seufzen des Publikums in seinem genialischen Kopf bereits zu einer Symphonie der Agonie zusammengefügt. In Schmerz, Leid, Pein und Scham sollten wir miteinander verschmelzen, auf das sich die konvulsivischen Zuckungen unserer Leiber in ein Monument menschlicher Hoffnungslosig- und Unzulänglichkeit verwandelten. Was Christoph bei seinem diabolischen Plan nicht bedacht hatte: In 12 Kongressen war bereits so viel Liebe geschenkt worden, dass selbst diese aus eiskaltem Stahl geschmiedete Nagelbombe  zu süßem Honig gerinnen musste, den alle begierig aufleckten.

Dabei soll das Potenzial von ANATOMIE DES LIEBESAKTES, noch die Idee von Liebe mit der Nachhaltigkeit einer Atombombe für immer auszulöschen, keineswegs geschmälert werden. Sanfte Gemüter würden wohl hoffnungslos kapitulieren vor diesem filmischen Giftgasangriff, der sich den Mysterien des Orgasmus mit jener berüchtigten deutschen Sachlichkeit widmet, die sich spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg überaus großer, weltweiter Beliebtheit erfreut. Im Namen der Liebe wird der Lust hier gründlich der Garaus gemacht. Wo seine Aufklärungsmörser einschlagen, da wächst kein Schamhaar mehr, verdorrt selbst noch der fruchtbarste Boden. Sex, das ist in der Vorstellung von Hermann Schnell eine Unternehmung, die humanistische Bildung, Grundkenntnisse in Anthropologie und Anatomie, Akribie und höchste Präzision erfordert, soll sie – wie die Produktion deutscher Autos – zum beiderseitig einvernehmlich angepeilten Ziel führen. Emotionen, dieses zarte Ergebnis flüchtiger elektrischer Impulse, sind nichts weiter als ein Schräubchen, das ein geschulter Handwerker mit seinem TÜV-geprüften Werkzeug in die richtige Richtung drehen muss, damit der Motor schnurrt wie ein zufriedenes Kätzchen. Zur Belohnung wartet am Ende der Orgasmus, ein bis heute unerklärliches und dem deutschen Arzt, der durch den Film führt, daher auch irgendwie suspektes Phänomen, dessen regelmäßige Stimulation einer der Grundpfeiler eines sich durch seelische Hygiene auszeichnenden Bürgerlebens ist. Nur wenn die Kuh gefüttert wird, kann sie Milch geben.

ANATOMIE DES LIEBESAKTES entstand im Zuge des Erfolges der Oswalt-Kolle-Filme, die die Deutschen an die Existenz ihres Unterleibs erinnerte, freilich mit ernstgemeintem Bildungsauftrag. Die wenig später erscheinenden Report-Filme, sollten jenen Aufklärungsansatz als Legitimation für feiste Exploitation nutzen, doch solche Ideen sind Schnell gänzlich fremd. Nachdem eine paradigmatisch langsam scrollende Texteinblendung Zeugnis über die hehren Beweggründe des Films abgelegt hat und dem weiterführend interessierten Zuschauer anhand der ausführlichen Literaturliste Lese- und Recherchestoff empfohlen hat, turnt ein makellos schönes, aber auch persönlickeitsarmes Pärchen zu den Klängen von Ravels „Bolero“ wie unter Drogen über den weißen Flokati. Über die volle Länge des in seiner Dramaturgie ja schon an einen Liebesakt erinnernden Stückes wohnt man ihren zärtlichen, sich nur langsam steigernden Liebkosungen bei, die aber auch zum Crescendo nicht die volle Erlösung bringen: Wie auch, ohne den Einsatz der primären Geschlechtsorgane? ANATOMIE DES LIEBESAKTES ist eindeutig keine Pornografie und man weiß nicht, ob man es bewundernswert, rührend oder schlicht komplett verblödet finden soll, dass man aufseiten der Filmemacher der felsenfesten Überzeugung war, dieses Thema umfassend behandeln zu können, ohne auch nur einmal einen erigierten Penis beim Eindringen oder überhaupt ein Geschlechtsteil zu zeigen.

Nachdem man durch das ekstatische Trockengerödel weitestgehend desensitiviert wurde, ist es Zeit für den sachlichen Teil des Films: Das Bolero-Ehepaar (Wolfgang Reinhard und Henriette Gonnermann) besucht den Arzt (SCHULMÄDCHEN-REPORT-Regular Günther Kieslich), um sich über die Sexualität aufklären zu lassen. Besonders die Gattin ist hoch interessiert, souffliert dem sich des äußersten Ernstes des Anlasses zu jeder Sekunde bewussten Arzt die passenden Fragen oder stellt sich zum richtigen Zeitpunkt auch einfach mal dumm. Wenn unsere ungeteilte Aufmerksamkeit besonders wichtig wird, zoomt die Kamera auf das strenge, aber nicht unfreundliche Gesicht des Arztes, und er lehnt sich in seinem Stuhl nach vorn, wendet sich direkt an den Zuschauer und beschwört ihn geradezu wie ein Hypnotiseur: Sex ist kein Spiel, kein Spaß, sondern ein ernstes Thema, damit da mal keine Missverständnisse aufkommen. Um das zu unterstreichen, lässt es sich der Arzt nicht nehmen, dann und wann die Schätze seiner Fachbibilothek vorzuführen und besonders wichtige Passagen in gänze zu rezitieren. Doch gerade mit dieser krankhaften Sachlichkeit erzeugte ANATOMIE DES LIEBESAKTES ein geradezu orgiastisches Vergnügen: Nie ward ein dermaßen staubtrockener Vortrag begeisterter aufgenommen als am vergangenen Sonntag, als Nürnberg im verdienten Schlaf lag, während in einem kleinen Kinosaal der deutschen Sextrunst gehuldigt wurde.

Die nicht enden wollende Aufzählung der verschiedenen Positionen, jeweils beispielhaft dargestellt durch einen Mann mit abgeklebtem Penis und die Ehefrau und ergänzt um anatomische Modellanimationen, versetzte in einen nahezu tranceartigen Zustand. Die stets gleichförmig bleibende, stichwortartig Fakten abhakende Aufzählung der stimulierten Regionen – da klatschen ohne Unterlass Hodensäcke gegen Kitzler und Damm, droht vor gegenseitiger Stimulation ein Ermüdunsgbruch der Schambeine – und Auskünfte über Einfallswinkel des Penis, Lage der Vagina und Tiefe der auszuübenden Stöße verwandelte sich in ein Mantra der Unlust, das die Lenden der Zuschauer vollkommen betäubte und den Gedanken an Sex so reizvoll machte wie eine Mathe-Leistungskursklausur. Auch der mit Nachdruck gegebene Hinweis, dass für die Gesundheitsschädlichkeit der Selbstbefriedigung bisher kein stichhaltiger Beweis erbracht worden sei, konnte keine Linderung mehr verschaffen.

Die schönste Szene gab es kurz vor Schluss. Plötzlich, zum ersten Mal während des gut einstündigen Vortrags des wenig geschäftstüchtigen Arztes (er verkauft der neugierigen Frau noch nicht einmal den Vibrator!) zoomt die Kamera auf den Gatten, der sich die ganze Zeit sehr zurückgehalten und seiner Frau den Vortritt gelassen hatte (die ihn wahrscheinlich überhaupt erst dorthin geschleppt hat). Sein Blick konzentriert sich plötzlich auf irgendeinen Punkt an der Decke, er wird ganz Ernst: Sollte jetzt doch noch eine große Erkenntnis einsetzen? Der Film sich gar eine nicht mehr für möglich gehaltene Überraschung erlauben? Nein. Als habe sie sich nur mal kurz ausgeruht, schwenkt die Kamera wieder in die gewohnte Position zurück. Das beschreibt die Gefühle, mit denen mich der Film dann um 6 Uhr gen Hotelbett entließ, besser, als ich sie beschreiben könnte. Und während ich sanft entschlummerter, schmiedete Christoph wahrscheinlich bereits Pläne für den nächsten „stählernen Überraschungsfilm“  …

(Das Wissen, dass der Schauspieler des Arztes, Günther Kieslich, mit der Darstellerin der Ehefrau, Henriette Gonnermann, verheiratet war, wirft ein ganz neues Licht auf die vermeintlich seriösen Vorgänge des Films.)

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